T. Mäusli u.a. (Hrsg.): Radio und Fernsehen in der Schweiz

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Titel
Radio und Fernsehen in der Schweiz. Geschichte der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG 1958–1983


Herausgeber
Mäusli, Theo; Andreas Steigmeier
Erschienen
Baden 2006: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Die SRG-Geschichte – eine totale Schweizergeschichte. Manche erinnern sich an das berühmte Radio-Zeitzeichen aus Neuenburg, das sagte, dass man mit der Mittagssuppe beginnen konnte. Sie erinnern sich, wo man sich gerade befand, als im Spätherbst 1963 die schockierende Nachricht überbracht wurde, dass J. F. Kennedy ermordet worden ist. Manche haben unvergessliche Erinnerungen an die lange Nacht der ersten Mondlandung 1969 mit den modern sein wollenden und doch schon damals und nicht erst im Rückblick provinziell wirkenden TV-Studiokulissen. Erinnerungen gibt es sodann an die chaotischen Auftritte der Jugendbewegung 1980. Etc.

Und Mediengeschichte ist, wenn sie Zeitgeschichte ist, immer Geschichte auch unseres eigenen Lebens. Darum können wir, wenn wir alt genug sind, auch Elementen unserer eigenen Biografie begegnen. Unsere biografische Erinnerung ist zu einem nicht unwichtigen Teil Erinnerungen an mediale Wirklichkeiten. Unser Leben wäre um vieles ärmer gewesen und unsere Erinnerungen wären es jetzt, wenn es nicht die elektronischen Angebote von Radio und Fernsehen gegeben hätte.

Die SRG hat soeben den zweiten Teil einer mehrsprachigen und stark bebilderten Radio- und Fernsehgeschichte der Jahre 1958–1983 vorgelegt. Ein erster Teil war im Jahr 2000 erschienen. Und es ist schon jetzt offensichtlich, dass diese Geschichte weitergeführt werden muss.

Mediengeschichte ist zwingend immer beides: Geschichte der Medien und zugleich Geschichte der medialen Inhalte. Zur Mediengeschichte und zur Institutionengeschichte gehören etwa: das für die Schweiz typische Oszillieren zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung; 1959 die allgemeine Debatte um die Standorte der Fernsehstudios. Luzern pries sich damals als idealen gesamtschweizerischen Standort auch für die französische und die italienische Schweiz an. Sodann 1965 die Einführung der Werbesendungen, 1968 die Einführung des Farbfernsehens. Etc.

Um nicht nur vom Fernsehen zu reden: 1983 musste das SRG-Monopol einem Pluralismus mit 50 Radio- und 10 Fernsehstationen Platz machen. Dieser Wandel hatte sich bekanntlich bereits Ende der 1970er Jahre mit Piratensendungen aus Campione und vom Pizzo Groppera aus angekündigt.

Zur institutionengeschichtlichen Betrachtung gehörten Ausführungen zur gewaltigen Ausdehnung der Sendezeiten. Man stelle sich vor, dass es eine Zeit gab, da das Fernsehen an Dienstagen nicht sendete (das wäre heute und würde vielleicht nichts ausmachen, weil wir alle hier versammelt sind). Die Jahre 1958 bis 1983, über die hier berichtet wird, brachten eine Multiplikation der Jahresstunden im Radio um das Dreieinhalbfache und im Fernsehen um sogar mehr als das Fünffache.

Von breiterem Interesse ist doch die Geschichte der medialen Inhalte. Die auch im Buch behandelte Hauptfrage besteht darin, inwiefern die elektronischen Massenmedien wirklich nur Vermittler gesellschaftlicher Gegebenheiten, inwiefern sie auch eine eigene, die gesellschaftlichen Gegebenheiten prägende Kraft sind – und waren und sein werden. Erwartungsgemäss finden sich im Buch Aussagen zu beidem. Dass sich Radio und Fernsehen nicht zu unabhängig gebärdeten, dafür sorgte die starke politische Kontrolle. Zutreffend bemerken die Autoren: «Kaum eine andere formell vom Staat unabhängige Organisation wird in diesem Land, in allen Landesteilen und von allen Bevölkerungsteilen so konstant und scharf beobachtet und kontrolliert wie die SRG.»

Trotzdem wirkten Radio und Fernsehen als Wegbereiter des gesellschaftlichen Wandels, insbesondere in den 1970er Jahren in den Debatten um Tabuthemen zu Armee, Sexualität, Jugendkultur, aber auch zur trügerischen Idylle des Bergbauernlebens (Film des Urners Fredi Murer von 1974). Die späten 1960er und die frühen 1970er Jahre bilden den Drehpunkt der ganzen Entwicklung zwischen 1958 und 1983, einer Entwicklung von einer Ära, die im Guten wie im Schlechten durch einheitlichen Gemeinschaftsgeist geprägt war, in einer Ära des gesellschaftlichen Pluralismus mit seinen erfreulichen wie ärgerlichen Seiten.

Die Medien waren allein schon darum Pioniere in dieser Entwicklung, weil sie Öffentlichkeit schufen. Hinzu kam unbestritten, dass die meisten medialen Akteure mit dem Wandel sympathisierten. Öffentlichkeit wirkt allerdings nicht immer zu Gunsten liberaler Neuerungen. Sie kann auch dazu führen, dass sich der stark konservative Charakter dieses Landes Respekt verschafft. Das Verhältnis Schweiz–Europa kommt, wenn wir von der seit 1954 bestehenden Eurovision absehen, in diesem Buch sozusagen nicht vor, dies sozusagen konsequenterweise, weil Europa in der Schweiz jener Jahre praktisch nicht vorkommt. Eine Ausnahme: Nicht ohne Stolz wird registriert, dass man 1967 mit der Tessiner Pionierfrau Tiziana Mona punkto Einsetzen von Nachrichtensprecherinnen dem Rest von Europa voraus war.

Um 1970 wurden, analog zu den Sendungen für die Ausländer, auch spezielle Sendungen für die Frauen oder die Frau angeboten. Das Buch deutet an, ohne allerdings den Nachweis zu erbringen, dass diese und solche Sendungen die 1971 – endlich – zustande gekommene Einführung des Frauenstimmrechts gefördert haben. Sie wurden aber kurz darauf abgeschafft, weil man eine Gettoisierung der Thematik vermeiden wollte.

Gerade Zeitgeschichte kann uns bewusst machen, wie gross die Distanz zwischen dem Heute und dem Gestern zuweilen ist. Vor 50 Jahren, 1955, wehrten sich Appenzell und Glarus dagegen, dass das Fernsehen ihre Landsgemeinden übertragen wollte. Bundesbern war da etwas offener: Im Vorjahr, 1954, wurde erstmals eine Bundesratswahl übertragen. Eine erste Vollübertragung einer Parla mentsdebatte fand im August 1968 im Zusammenhang mit dem Einmarsch der Sowjettruppen in Prag statt. Gerade in diesen Jahren fiel Bundesrat Nello Celio als besonders medienfreundlicher Magistrat auf.

Nach anfänglicher Zurückhaltung und Unbeholfenheit setzte schnell der mediale Gebrauch oder Missbrauch ein. Die ausserparlamentarische Opposition und die Basisbewegungen verstanden es, Ton und Bild auf sich zu lenken; 1964 etwa die militanten Jurassier, welche mit ihrem Aufruhr eine medial sehr beachtete Vaterlandsfeier zur Erinnerung an die beiden Weltkriege für sich zu nutzen wussten. Oder 1980 die chaotische Jugendbewegung, welche die gut gemeinten Dialogversuche benutzte, um die bürgerliche Schweiz zu schockieren. In solchen Fällen sahen sich die Massenmedien schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, als die Überbringer unerfreulicher Botschaften selber deren Verursacher zu sein.

Die Autoren haben 5355 durchnummerierte und digital erfasste Dokumente von insgesamt über 100 000 Seiten erfasst und untersucht, Dokumente, die auf der zentralen Führungsebene und aus der Sicht des Gesamtunternehmens produziert worden sind. Diese Auswertung bildet eine gute Ausgangsbasis für weitere Arbeiten, insbesondere den verstärkten und wirklich systematischen Einbezug der täglichen Sendungen. Die Autoren sehen diese Möglichkeit, weil zur Zeit alle Produktionen digitalisiert werden.

Einige der referierten Konzepte tönen etwas gar theoretisch und abstrakt. Das gilt zum Beispiel für die Diskussion um die verschiedenen Varianten, wie der kulturelle Auftrag von Radio und Fernsehen definiert werden soll. Die Varianten gingen von Kultur bewahren über Kultur berücksichtigen und zur Kultur beitragen bis zu Kultur fördern, beziehungsweise von Kulturplattform über Kulturvermittlung zu Kulturproduktion. Eine wirklich andere Frage ist, wie sich solche Formulierungen auf den obersten Etagen auf die konkrete Arbeit auswirkten. Besonders spannend ist die Frage, inwiefern Radio- und Fernsehprogramme vorallem städtische Kultur verbreiteten und damit der Landbevölkerung nicht das Angebot zukommen liessen, das ihrem genuinen und legitimen Bedürfnis entsprach.

Mediengeschichte ist im Idealfall so etwas wie eine «Histoire totale». Als solche ist sie stets breiteste Gesellschaftsgeschichte: politische Geschichte wie Alltagsgeschichte, Nationalgeschichte wie Weltgeschichte. Und wie Radio und Fernsehen Pioniere waren, ist der Band von Mäusli und Steigmeier dem Pioniergeist ihres Gegenstands verpflichtet und darum als wichtiger Beitrag für eine noch neuere «Neue Schweizer Geschichte» zu würdigen, die eigentlich überfällig ist.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Theo Mäusli und Andreas Steigmeier (Hg.): Radio und Fernsehen in der Schweiz. Geschichte der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG 1958–1983. Baden, Verlag hier + jetzt, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 489-491.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 489-491.

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